Überraschende Vielfalt von Elektronenzuständen auf polaren Kristalloberflächen

05.08.2022

M. Reticcioli und C. Franchini haben im Rahmen des vom FWF geförderten SFB TACO eine überraschende Vielfalt an elektronischen Zuständen auf einer typischen polaren Oberfläche entdeckt. | Neue Publikation in "Nature Communications".

In der Oberflächenphysik spielen die Anordnung von Atomen sowie die von Elektronen eingenommenen Zustände auf Oberflächen von Kristallen eine zentrale Rolle. Sie bestimmen nämlich die Eigenschaften der Oberfläche und insbesondere die chemischen Reaktionen, die auf ihr ablaufen können. Die Oberfläche kann dabei die Rolle eines Katalysators einnehmen und manche Reaktionen begünstigen.

Besonders interessant für die Physik sind dabei sogenannte polare Oberflächen. Das sind Oberflächen bestimmter Kristalle, die freie Ladungen, also Elektronen, ausbilden können. Solche Materialien werden auch Ferroelektrika genannt und können ein permanentes elektrisches Feld behalten – ähnlich wie Permanentmagnete ein ständiges magnetisches Feld. Ferroelektrika sind für die Katalyseforschung besonders spannend, da die polare Eigenschaft eine weitere Möglichkeit eröffnet, die auf der Oberfläche ablaufenden Reaktionen gezielt zu beeinflussen.

Das Forschungsteam hat dafür den Perowskitkristall KTaO3, auch als Kaliumtantalat bezeichnet, unter die Lupe genommen. Die „Lupe“ im Werkzeugkasten der Forschenden setzt sich dabei aus Rastertunnelmikroskopen (RTM) einerseits und Modellrechnungen andererseits zusammen. Im Wechselspiel zwischen Experiment und Theorie erlaubt dies ein genaues Verständnis der Strukturen an der Kristalloberfläche.

Auf einem im Vakuum gespaltenen KTaO3-Kristall entstehen atomar kleine Terrassen mit der Zusammensetzung KO (Kaliumoxid) bzw. TaO2 (Tantaldioxid). Die bisher in der wissenschaftlichen Community gängige Annahme war, dass die erwähnten freien Ladungen auf der um eine Atomlage tiefer liegenden TaO2-Terrasse ein zweidimensionales Elektronengas bilden. Das würde bedeuten, dass sich die Elektronen völlig gleichförmig über die Oberfläche verteilen – ganz ähnlich wie die Elektronen in einem herkömmlichen Metallstück, nur auf zwei statt auf drei Dimensionen beschränkt. Jedoch legten bereits die RTM-Aufnahmen der Experimentalphysiker*innen im Team nahe, dass diese verbreitete Annahme nicht stimmen konnte: Die Oberflächenstrukturen waren zu divers, um sie mit einer gleichförmigen Verteilung erklären zu können. Vielmehr zeigte sich, dass die Ladungen räumlich klar begrenzt und lokalisiert vorliegen. Diese Zustände der Elektronen nennen sich im Fachjargon Polaronen, Bipolaronen und stehende Ladungsdichtewellen (engl. charge density wave). Polaronen und Bipolaronen kann man sich als einzeln oder paarweise fest an Atome angelagerte Elektronen vorstellen, die zu einer leichten Verzerrung der lokalen Kristallstruktur führen.

Die Theoretiker im Team gingen dem in ihren Simulationen genauer auf den Grund. Die dafür verwendete Methode nennt sich Dichtefunktionaltheorie und wurde vom aus Wien stammenden Chemie-Nobelpreisträger Walter Kohn entwickelt. Mit dieser näherungsweisen Berechnungsmethode sind die an sich hoch komplexen Rechnungen zwar immer noch aufwändig, können aber von Supercomputern wie in diesem Fall dem Vienna Scientific Cluster bewältigt werden. Die Berechnungen konnten die experimentell begründeten Vermutungen bestätigen: Eine Anordnung der Elektronen in lokalisierter Form als Polaronen, Bipolaronen bzw. Ladungsdichtewellen (und Kombinationen davon) ist energetisch günstiger als ein zweidimensionales Elektronengas in der TaO2-Schicht. Auch die Verteilung der im Experiment gemessenen Zustandsdichten der Elektronen konnte durch die Theorie bestätigt werden.

Der neuartige und überraschende physikalische Effekt könnte dazu genutzt werden, um die ferroelektrische Polarisation der Kristalloberfläche zu beeinflussen. Er könnte auch wichtig für die zukünftige Anwendung in der Katalyse sein. Von manchen katalytischen Reaktionen verspricht man sich einen wertvollen Beitrag zum Klimaschutz.

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Überschüssige freie Ladungen auf der polaren Oberfläche von KTaO3. Links: Ein Modell, das den Ladungstransfer zwischen Atomschichten skizziert, der an der Oberfläche unterbrochen wird und die nicht kompensierte Überschussladung verursacht. Rechts: Bilder der Ladungsdichtewelle (oben) und Zustände von Polaronen (unten) aus experimenteller Rastertunnelmikroskopie und Dichtefunktionaltheorieberechnungen. (© Michele Reticcioli, Universität Wien)