Die Erdkruste zu Österreichs Füßen bringt etwa 9,4 Billiarden Tonnen auf die Waage und besteht aus nahezu allen chemischen Elementen. Der Anteil des Radionuklids Technetium 99 (99Tc) ist dabei schwindend gering – das Vorkommen in der gesamten Erdkruste beträgt gerademal 90 Tonnen.
2019 ist das Internationale Jahr des Periodensystems der chemischen Elemente (IYPT 2019). Vor 150 Jahren entdeckte der russische Chemiker Dmitri Mendelejew (1834-1907) einen systematischen Zusammenhang zwischen Atommasse und chemischen Eigenschaften der Elemente und schuf damit das Periodensystem. (© IYPT 2019)
Menschgemachte Emissionen
99Tc kommt natürlich vor, der weitaus bedeutendere Anteil an der Erdoberfläche wurde und wird jedoch von Menschen emittiert. Rund 200 Kilogramm gehen auf das Konto von Kernwaffentests, die weltweit bis in die 1960er Jahre durchgeführt wurden. Ebenso wird Technetium 99 in Wiederaufbereitungsanlagen abgesondert – der Nuklearkomplex Sellafield in Großbritannien führt die Emissionsliste an: "Hier ging in den 1990er Jahren eine Anlage in Betrieb, die zwar schwerere Nuklide herausfilterte, 99Tc aber ungehindert durchließ. Der Ausstoß wurde erst nach zehn Jahren deutlich reduziert, zu diesem Zeitpunkt war das Radionuklid bereits im Tonnenbereich in die Irische See ausgestoßen", erzählt Karin Hain, Projektleiterin in der Forschungsgruppe Isotopenphysik an der Uni Wien. Durch die hohe Verdünnung in der Umwelt und der langen Halbwertszeit gelten die Emissionen aber als radiologisch irrelevant.
Erst verstehen, dann emittieren
Wenig, aber dennoch wichtig, findet die Isotopenphysikerin: "Technetium 99 hat eine lange Halbwertszeit und verhält sich nach derzeitigem Verständnis sehr mobil, weshalb es als besonders bedenklich für die Endlagerung von nuklearem Abfall gilt. Wir wissen bisher aber nur begrenzt, wie sich das Radionuklid bei verschiedenen chemischen Bedingungen in der Umwelt verbreitet. Vor weiteren möglichen Emissionen müssen wir diese Vorgänge verstehen."
Ein Element ist charakterisiert durch die Protonenzahl und die Elektronenzahl in der Atomhülle. Es können unterschiedliche Isotope des gleichen Elementes auftreten, die verschiedene Neutronenzahlen im Kern aufweisen. Alle Technetium-Isotope sind radioaktiv, instabil und zerfallen. Technetium 99 ist mit einer Halbwertszeit von 210.000 Jahren eines der besonders langlebigen Isotope von Technetium.
Technetium in der Krebsdiagnostik
Eine weitere Emissionsquelle, "die es im Auge zu behalten gilt", liegt im medizinischen Bereich. Technetium dient in metastabiler Form (Technetium 99m) als medizinischer Tracer in der Krebsdiagnostik und kommt weltweit ca. 70.000 Mal täglich zur Anwendung: "Technetium liefert gute Signale und kann Tumore sichtbar machen" so Hain. Das Technetium zerfällt im Gegensatz zu anderen Tracern aber nicht direkt in ein stabiles Nuklid, sondern in einen langlebigen Grundzustand, welcher von den PatientInnen über Ausscheidungen an die Kanalisation abgegeben wird.
Gut getarnte Teilchen
Um die Spuren-Konzentrationen von 99Tc in der Umwelt feststellen und die Verbreitung nachverfolgen zu können, braucht es mit herkömmlichen Methoden eine große Menge an Probenmaterial: "Es werden etwa 1.000 Liter Pazifikwasser benötigt, um 99Tc überhaupt zu finden", erklärt Karin Hain.
Mit der Beschleuniger-Massenspektrometrie kann das Volumen auf zehn Liter reduziert und so die Datenlage zur Verbreitung von 99Tc signifikant verbessert werden. Doch die Auswertung der Umweltproben stellt Karin Hain und ihr Team vor methodische Herausforderungen: Die herkömmlichen Anlagen zur Massenspektrometrie können nicht zwischen gleichen Massen unterscheiden – ob es sich in den Proben tatsächlich um das extrem seltene Radionuklid 99Tc oder etwa um das um Größenordnungen häufiger vorkommende stabile Ruthenium 99 (Ru-99) handelt, können die Forscherinnen daher nicht eindeutig bestimmen.
Die Umweltproben werden aktuell zusammen mit dem Projektpartner, der Technischen Universität München, an einer Anlage mit 14 Megavolt analysiert. "Nur mit derart großen Beschleunigern wird die notwendige Untergrundunterdrückung erreicht, um 99Tc eindeutig identifizieren zu können", erklärt Hain. Für die Untersuchung von Technetium 99 wird geballtes Wissen aus den Naturwissenschaften benötigt. Das Forschungsprojekt wird von Karin Hain (vorne), Expertin in Isotopenphysik, und zwei Doktorandinnen in Chemie und Physik bearbeitet. (© VERA)
Methode mit Entwicklungspotenzial
Weltweit gibt es nur zwei Anlagen in dieser Größenordnung – nicht genug, um die Konzentration von Technetium 99 flächendeckend zu untersuchen. "Wir suchen nun nach einer Methode, mit der wir Technetium 99 auch an niederenergetischen Teilchenbeschleunigern, so wie an VERA (Vienna Environmental Research Accelerator) hier an der Universität Wien, nachweisen können." Helfen soll dabei ein Aufbau, der vor drei Jahren an VERA installiert wurde und für andere Nuklide bereits vielversprechende Ergebnisse geliefert hat: Vor Eintritt in den Beschleuniger überlagert ein Laser den Ionenstrahl und führt dazu, dass Elektronen von der Ruthenium-Verbindung gelöst werden, sodass Ru-99 nicht weiter transportiert werden kann und Technetium 99 bestimmbar wird.
VERA (Vienna Environmental Research Accelerator) wurde 1996 in Betrieb genommen und kontinuierlich ausgebaut; zuletzt 2016, als ein neuartiger Injektor zur Isobaren-Unterdrückung mittels Ionen-Laser-Wechselwirkung erfolgreich hinzugefügt wurde. VERA erweitert damit maßgeblich den Anwendungsbereich der Niederenergie-AMS zum Spurennachweis von den leichtesten langlebigen Nukliden wie 14C bis hin zu Nukliden schwerer als Uran.
Aufschlussreiche Emissionen
Der Forscherin geht es zunächst um einen Proof of Principle – kann dieses Vorhaben physikalisch überhaupt funktionieren? Falls ja, kann die Spurenanalyse auch außerhalb der Physik nützlich werden. "Technetium 99 wird im Wasser mittransportiert und könnte so als Umwelttracer für Meeresströmungen dienen. Durch die Emissionen der Anlage in Sellafield hätten wir zum ersten Mal zusätzlich zur Ortsinformation auch konkrete Zeitinformationen, anhand derer wir die Nordatlantikströmungen unter realen Bedingungen im zeitlichen Vergleich betrachten können – das wiederum würde Aufschluss über die Auswirkungen der Polschmelze geben und wäre in der Diskussion um den Klimawandel relevant", erklärt Hain: "Es ist bedauerlich, dass Radionuklide in die Umwelt gelangen, aber wir können immerhin versuchen, diesen Umstand für etwas Positives zu nutzen." (hm)
Das Projekt "Untersuchung der globalen Verteilung des Radionuklides 99Tc" unter der Leitung von Karin Hain von der Forschungsgruppe Isotopenphysik an der Fakultät für Physik läuft von Oktober 2018 bis Oktober 2021 und wird vom FWF gefördert.