Ist die Vergangenheit (und Zukunft) da, wenn niemand hinschaut?

17.05.2021

Die Quantenmechanik ist berühmt für ihren Indeterminismus. Normalerweise können wir jedoch Wahrscheinlichkeiten verwenden, um unsere Unsicherheit über zukünftige Beobachtungen zu quantifizieren.

Die Quantenmechanik ist berühmt für ihren Indeterminismus. Normalerweise können wir jedoch Wahrscheinlichkeiten verwenden, um unsere Unsicherheit über zukünftige Beobachtungen zu quantifizieren. Ein Team von Forscher*innen der Universität Wien, des IQOQI Wien der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und des Perimeter-Instituts für Theoretische Physik zeigte nun kürzlich, dass es in bestimmten extremen Quantenszenarien nicht möglich ist, solche wahrscheinlichkeitstheoretischen Vorhersagen zu machen, vorausgesetzt bestimmte Schlüsselannahmen der Quantenmechanik treffen zu. Diese Arbeit, veröffentlicht in Communications Physics, wirft etwas Licht auf die Debatte über die Interpretation der Quantenmechanik.

1961 schlug der mit dem Nobelpreis ausgezeichnete theoretische Physiker Eugene Wigner das sogenannte "Wigners Freund"-Gedankenexperiment als Erweiterung des allseits bekannten "Schrödingers Katzen"-Experiments vor. In letzterem wird eine Katze in einer Kiste mit Gift gefangen gehalten, das beim Zerfall eines radioaktiven Atoms freigesetzt wird. Den quantenmechanischen Gesetzen folgend befindet sich das radioaktive Atom in einer Überlagerung zwischen Zerfall und Nicht-Zerfall, was auch bedeutet, dass sich die Katze in einer Überlagerung zwischen Leben und Tod befindet. Was erlebt die Katze, wenn sie sich in der Überlagerung, der Quantensuperposition, befindet? Wigner spitzte die Frage zu, indem er die Quantentheorie an ihre begrifflichen Grenzen trieb. Er untersuchte, was passiert, wenn auch ein Beobachter selbst Quanteneigenschaften hat.

Im Gedankenexperiment führt ein Beobachter, Wigners Freund genannt, eine Quantenmessung durch und registriert ein Ergebnis. Aus der Sicht eines anderen Beobachters, Wigner, kann der Messvorgang des Freundes als Quantensuperposition beschrieben werden. Die Tatsache, dass die Quantentheorie keine Gültigkeitsgrenzen für ihre Anwendung setzt, führt zu einer deutlichen Spannung zwischen der Wahrnehmung des Freundes, der ein bestimmtes einzelnes Messergebnis sieht, und der Beschreibung von Wigner, der den Freund in einer Überlagerung verschiedener Wahrnehmungen beobachtet. Dieses Gedankenexperiment wirft also die Frage auf: Was bedeutet es für einen Beobachter in einer Quantensuperposition, das Ergebnis einer Messung zu beobachten? Kann ein Beobachter dem, was er sieht, immer vertrauen und daraus Vorhersagen über zukünftige Messungen treffen?

In ihrer kürzlich in Communications Physics veröffentlichten Arbeit untersucht ein Team von Forscher*innen der Universität Wien, des Instituts für Quantenoptik und Quanteninformation (IQOQI-Wien) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und des Perimeter Institute for Theoretical Physics in Kanada die Grenzen, die das Gedankenexperiment von Wigners Freund der Fähigkeit eines Beobachters auferlegt, seine eigenen zukünftigen Beobachtungen vorherzusagen.

Zu diesem Zweck identifizieren die Autor*innen eine Reihe von Annahmen, die alle traditionell als Kern des Quantenformalismus gelten. Diese erlauben es einem Beobachter in den üblichen experimentellen Situationen, die Wahrscheinlichkeiten für zukünftige Ergebnisse auf Basis seiner vergangenen Erfahrungen vorherzusagen. Die Annahmen zwingen die Wahrscheinlichkeiten dazu, quantenmechanischen Gesetzen zu gehorchen. Die Forscher*innen beweisen jedoch, dass diese Annahmen für Wigners Freund im Gedankenexperiment nicht alle erfüllt werden können. Diese Arbeit wirft wichtige Fragen über die "persistente Realität" der Wahrnehmungen von Wigners Freund auf. Tatsächlich zeigen die Autor*innen, dass es in einem Wigners-Freund-Szenario unmöglich ist, die Wahrnehmungen des Freundes zu verschiedenen Zeitpunkten als koexistent zu betrachten. Dies macht es fraglich, ob ein Quantenbeobachter im Allgemeinen seine eigenen vergangenen oder zukünftigen Erfahrungen als ebenso real betrachten kann wie seine gegenwärtigen. Philippe Allard Guérin, der Hauptautor der Studie, sagt: "Unsere Arbeit zeigt, dass mindestens eine von drei Schlüsselannahmen der Quantenmechanik verletzt sein muss; welche, hängt von der bevorzugten Interpretation der Quantenmechanik ab."

Publikation Communications Physics:
Philippe Allard Guérin, Veronika Baumann, Flavio Del Santo & Časlav Brukner: A no-go theorem for the persistent reality of Wigner’s friend’s perception. Communications Physics, 2021.
DOI: 10.1038/s42005-021-00589-1

 

 

 

Ein Beobachter (Wigners Freund) führt eine Quantenmessung an einem Spin-System durch. Später misst Wigner den Freund und den Spin in einer verschränkten Basis. Als Folge dieser Messung kann sich Wigners Freund nicht nur unzuverlässig an sein vergangenes Beobachtungsergebnis erinnern, sondern kann diese Unwissenheit nicht einmal mit einer vernünftigen Wahrscheinlichkeitsverteilung quantifizieren. (© Aloop, IQOQI-Wien, Österreichische Akademie der Wissenschaften)